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In 80 Tagen um die Welt - Leseprobe zu "360° westwärts"

Eine Leseprobe für alle, die neugierig sind auf dieses Buch: Lesen hier das erste und zweite Kapitel von "360° westwärts - In 80 Tagen im Propellerfluzeug um die Welt" von Johannes Burges! Und falls es Ihnen gefällt: Kaufen Sie das Buch hier!

Kapitel 1: Bis ans Ende der Welt – und noch ­etwas weiter

Ganz allein stehe ich auf der Landebahn, in meinem dicken, orangefarbenen Überlebensanzug. Es ist kurz nach Sonnen­aufgang. Um mich herum befindet sich im Umkreis von gut 300 Kilo­metern keine Menschenseele: kein Dorf, keine Stadt. Nur das Meer, das Rauschen des Pazifiks. Nur die unbewohnten Ausläufer der Aleuten, einer schmalen Inselkette, die sich von Alaska aus in einem weiten Bogen westwärts in den Pazifik erstreckt.

Ich stehe regungslos da und blicke ins Nichts. Ich habe Angst, gewaltige Angst vor einem Flug, wie ich ihn noch nie gemacht habe: über den nördlichen Pazifik hinweg, über eine Gegend, in der kaum jemand unterwegs ist, weil das Wetter meist so schlecht und der Seegang so hoch ist. Ein halber Tag übers ­offene, wilde Meer.

Links und rechts von mir erheben sich die steilen, knapp 900 Meter hohen Berge von Attu. Eine verlassene Insel, schroffe Felsen im Morgenlicht. Wenn es irgendwo ein Ende der Welt gibt, dann liegt Attu noch ein gutes Stück dahinter: ein weit abgelegener Felsen inmitten des unwirtlichen Pazifiks. Umtost von den Wellen, zerzaust vom Sturm, einsam und wild. Kein Strauch wächst auf den Hängen, nur Moos und Gras.

Von der Kulisse nehme ich in diesem Moment allerdings kaum etwas wahr, stattdessen rasen die Fragen durch meinen Kopf: Warum um Himmels willen habe ich mir das angetan? Warum wollte ich unbedingt nach Attu?

Attu – das ist der westlichste Punkt der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Insel liegt zehn Flugstunden westlich von Anchorage, mitten in der Barentsee. Von Attu aus ist es näher nach Russland als auf das Festland von Alaska. Russische Pelzjäger kamen im 18. Jahrhundert her, um Seeotter zu jagen. Einer der Jäger musste sieben Jahre auf der Insel ausharren, ehe ein Schiff ihn abholen kam. Und jetzt – kommt kein Schiff mehr nach Attu.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Amerikaner die Insel sich selbst überlassen. Im August 2010 ist als Letztes auch die US-Küstenwache abgezogen, hat diesen äußersten Außenposten der Vereinigten Staaten aufgegeben. Das Flughafengebäude und die Baracken der Coast Guard sind verlassen. Der Wind schlägt den eisigen Regen gegen die Bretter, mit denen die Fenster zugenagelt wurden.

Eine Geisterinsel.

Es gibt einen Tower, den niemand mehr bedient. Es gibt eine Landebahn, die niemand mehr pflegt. Seit Jahren landen hier keine Flugzeuge mehr. Wieso auch? Wer will schon nach Attu?

Und nun sind wir hier und wollen ausgerechnet von dieser Geisterinsel, von diesem Geisterflughafen aus starten. Verrückt? Ja, völlig verrückt. Zehn, elf Stunden wird unser Flug nach Japan dauern – wenn der Wind günstig steht und alles gut geht. 2800 Kilometer liegen vor uns, über das offene Meer bis nach Sapporo. Auf dieser Strecke gibt es keine einzige Insel, auf der wir notlanden könnten. Und wenn der Wind nicht von hinten kommt, sondern uns von vorn entgegenblasen sollte, wenn unser winziges Flugzeug also gegen die Gewalten der Natur ankämpfen muss – dann können es auch zwölf, dreizehn Stunden werden. Vielleicht sogar vierzehn oder fünfzehn. Dann könnte es knapp werden mit dem Sprit. Und leider bläst der Wind über dem nördlichen Pazifik meist aus Westen. Also tatsächlich von vorn.

»Maggie«, schaffst du das? Können wir dir vertrauen?

»Maggie« steht vor mir auf der Landebahn: ein winziges Flugzeug. Eine Mooney M20T, Baujahr 1997, eine einmotorige Sportmaschine mit Kolbenmotor. Menschen, die selbst nicht fliegen, würden sie vermutlich für eine Cessna halten, weil sie genauso klein ist.

Während ich auf der Landebahn stehe, schießen mir die wildesten Gedanken durch den Kopf. Ich denke an meine Familie in München, an meine Frau Heike und meine zehnjährige Tochter Marie. Werde ich sie wiedersehen? Werde ich den Flug über den Pazifik heil überstehen? Mein Frau hat immer gesagt: Erfüll dir deinen Traum! Flieg einmal um die Welt! Aber sie wusste nicht, was es heißt, von Attu nach Sapporo zu fliegen. Ich habe Todesangst …

Und in diesem Augenblick mache ich etwas, was ich sonst nie tue: Ich bete zu Gott. Eigentlich bin ich kein religiöser Mensch, es ist Ewigkeiten her, dass ich zum letzten Mal in der Kirche gewesen bin. Aber nun halte ich Zwiesprache mit dem Mann da oben im Himmel. Die Grenzerfahrung, vor der ich stehe, dieses Spiel mit Leben und Tod, lässt ihn mir plötzlich ganz nahe­rücken. Ich bitte den lieben Gott um Hilfe bei dem, was ich vorhabe.

IMG_3827Seit einem halben Jahr habe ich jeden Tag an Attu gedacht. Habe mir überlegt, wie es wohl sein wird auf dieser Insel. Habe von Attu geträumt und mir einen Film aus dem Internet heruntergeladen über dieses spezielle Eiland und seinen gottverlassenen Flughafen. Ich habe Albträume gehabt, obwohl ich mir doch ­eigentlich etwas Schönes erfüllen wollte.

Mein Traum: Ich will um die Welt fliegen – nicht in einer Linien­maschine, nicht mit einem dieser »Round the World«- Tickets, die es im Reisebüro zu kaufen gibt. Nein, ich will das ganz große Abenteuer. Deshalb sitze ich selbst am Steuer meiner kleinen Sportmaschine. Solche Propellerflugzeuge, angetrieben von ­einem Kolbenmotor, sind eigentlich nur dafür gebaut, ein paar Hundert Kilometer zurückzulegen. Von München nach Kiel. Von München nach Mallorca. Das alles habe ich in den letzten zwölf Jahren gemacht, seit ich meinen Pilotenschein erworben habe. Einmal bin ich sogar von München bis nach Spitz­bergen geflogen. Habe mich da schon mutig gefühlt, wie ein richtiger Abenteurer.

Aber einmal um die Welt? In einer Mooney? In so einer kleinen Kiste? Wahnsinn, sagen alle, denen ich in den Monaten zuvor davon erzählt habe. Freunde, die selbst nicht fliegen, aber auch erfahrene Piloten haben mir abgeraten. Mach das nicht! Das Flugzeug ist zu klein, haben sie gesagt, die Maschine zu schwach, das Risiko zu groß.

Ich mache es trotzdem. Denn ich bin davon überzeugt, dass ich meine Grenzen überwinden kann. Auch die Grenze der Angst. Ich will es mir beweisen, ja, vor allem mir selbst. Aber ich will es auch denen beweisen, die zweifeln, die dieses Abenteuer, meinen Flug um die Welt, für allzu verwegen halten.

Zu zweit machen wir diese Reise, zu zweit werden wir »­Maggie« steuern. Pilot und Co-Pilot: Mal ist es der eine, mal der andere. Mal Wolf Schroen, mal ich. Wir werden uns ab­wechseln, wir ergänzen uns gut. Ich bin der Draufgänger, Wolf ist der Bedächtige. Ich bin der Ungeduldige, Wolf ist der Ge­lassene. Ich drängele mich in einer Schlange gern vor, wenn ich es eilig habe, Wolf stellt sich immer hinten an (wirklich immer). Ich werde schon mal unwirsch, wenn mir etwas nicht passt, Wolf bleibt selbst in Stresssituationen immer die Ruhe selbst (na ja, fast immer). Er, der Deutsch-Amerikaner, geboren in Dallas, ist der große Weltenbummler, und ich, der gebürtige Bayer, seit ­jeher in und um München zu Hause, ich bin der Boden­ständige.

So unterschiedlich wir sind, so gut verstehen wir uns. Ich kenne Wolf erst seit einem Jahr, nicht sehr gut also. Wir sind keine alten Freunde, sondern zwei, die sich durch Zufall gefunden haben. Aber uns verbindet etwas Entscheidendes: Wolf ist genauso flugverrückt wie ich, vielleicht sogar noch ein bisschen verrückter. Auch er will seit Jahren einmal um die Welt fliegen und sucht schon lange jemanden, der mit ihm dieses Abenteuer wagt. Genauso wie ich jemanden gesucht habe, der es mit mir wagen würde. Nun wagen wir es gemeinsam.

Was wir vorhaben, das ist bislang erst wenigen Menschen gelungen. Seit 1924 sind gerade mal 194 einmotorige Kleinflugzeuge um die Welt geflogen, die meisten in östlicher Richtung, mit Rückenwind. Nur 44 Maschinen haben es in westlicher Richtung geschafft, die letzte vor zwei Jahren.

»Earthrounders« heißen diese Piloten, die die Welt mit einem Flugzeug umrundet haben. Es gibt einen gleichnamigen Club, der über alle erfolgreichen oder gerade aktuellen Umrundungsflüge Buch führt. Die ersten »Earthrounders« waren zwei Soldaten der US-Luftwaffe, die am 6. April 1924 mit ihren Doppeldeckern, genannt »Chicago« und »New Orleans«, von Seattle aus gestartet sind. Nach 175 Tagen waren sie wieder zurück. Zwei andere Maschinen schafften es nicht: Die »Seattle« zerschellte an einem Berg in Alaska, die »Boston« musste nahe Grönland notwassern; die Piloten überlebten in beiden Fällen.

Auf ihrer Reise um die Welt sind die ersten »Earthrounders« am 9. Mai 1924 auch auf Attu gelandet. Eine Metalltafel, die wir unweit der Landebahn entdeckt haben, erinnert an den »First World Flight« und an Lieutenant Erik H. Nelson, den Piloten der »New Orleans«, dem die erste Erdumrundung gelungen ist. Sechs Tage später sind die beiden Piloten weiter gen Japan geflogen – westwärts, genau wie wir.

P1060170Fast sieben Jahrzehnte danach ist ein Flug um die Welt, zumal in einem so kleinen Flugzeug wie unserer Mooney, immer noch ein Abenteuer. Eines mit Risiken. Eines aber auch, das unvergleichliche Erlebnisse verspricht. 80 Tage, so der Plan, soll unsere Reise dauern – 80 Tage, in denen wir in 20 Ländern Station machen und unterschiedlichste Kulturen erleben werden. Wir werden viel Zeit in der Luft verbringen, aber noch viel mehr Zeit am Boden.

Was die Philosophie unserer Reise anbelangt, sind Wolf und ich uns einig: Wir wollen nicht im Schweinsgalopp um die Welt fliegen, sondern Land und Leute so gut wie möglich kennen­lernen. Auch wenn wir nicht gemächlich mit dem Rucksack reisen oder mit dem Fahrrad um die Welt radeln, so wollen wir doch überall dort, wo wir mit »Maggie« landen, möglichst tief in die Kultur vor Ort eintauchen.

Der Reiz unserer Erdumrundung besteht dabei aus den extremen Gegensätzen, die wir innerhalb kürzester Zeit erleben werden: Mal stecken wir im ewigen Eis des Polarmeeres – und nur drei Tage später laufen wir durch die Straßenschluchten von Manhattan. Mal landen wir in der völligen Einsamkeit Alaskas – und nur eine Woche später in Tokio, der Mega-Metropole mit ihren 20 Millionen Einwohnern. Mal genehmigen wir uns einen Drink in einem Luxushotel in Singapur – und nur wenige Tage später laufen wir durch die Armenviertel von Chittagong, der zweitgrößten Stadt in Bangladesch. Mal empfangen uns korrupte Zöllner und feindselige Soldaten – oft aber werden wir Menschen erleben, die uns mit großer Herzlichkeit und Offenheit begrüßen und staunen über »the two crazy Germans«, die mit ihrem Mini-Flugzeug um die Welt fliegen.

20 Länder in elfeinhalb Wochen: Das soll uns einen faszinierenden Blick auf unsere Welt ermöglichen, auf wuchernde Metropolen und einsame Landstriche, auf traumhafte Strände und schneebedeckte Himalaja-Gipfel, auf coole Kneipen in Australien und lärmende Straßenhändler in Myanmar. Und es soll uns helfen, die Geschichte unserer Welt besser zu verstehen: die Geschichte der Ureinwohner und Eroberer, der Kolonialmächte und Weltmächte, die Geschichte von Reichtum und Armut, von Aufstieg und Fall, von Mensch und Natur.

Und dann, plötzlich, sind wir schon drei Wochen unterwegs: Von Straubing, eine Autostunde nordöstlich von München, sind wir nach Bremen geflogen, von dort über Schottland, Island und Grönland ins eisige Kanada. Anschließend ging’s nach New York und weiter nach Dallas. Es folgte der Südwesten der USA: Las Vegas samt Grand Canyon und Bryce Canyon, Kalifornien samt Los Angeles und San Francisco. Von dort hoch nach Norden, entlang der Pazifikküste nach Anchorage. Und schließlich über die Aleuten bis nach Attu.

Vor uns liegt nun die gefährlichste Herausforderung unserer Erdumrundung: der Flug über den Pazifik. Hier zeigt sich, ob wir den notwendigen Mut haben – oder nicht. Hier zeigt sich, ob unser Flugzeug ausreichend Kraft hat für diese Reise – oder nicht. Es geht, so dramatisch das auch klingen mag, um Leben und Tod.

Am Tag zuvor sind wir auf Attu gelandet. Wir kamen von Adak, einer anderen, unwirtlichen Aleuteninsel. Als wir uns am frühen Nachmittag Attu näherten, schien die Sonne. Allein das ist schon bemerkenswert. Denn normalerweise hängen an über 355 Tagen im Jahr dichte Wolken über der Insel. Nur an acht bis zehn Tagen regnet es nicht, nur an acht bis zehn Tagen herrscht Sonnenschein – und in der Nacht kann man die Sterne sehen. Und wir erwischen einen dieser Tage! Was für ein Glück!

Attu sieht beeindruckend aus, wie es so daliegt: eine 56 Kilometer lange und 31 Kilometer breite Insel mit vielen schmalen Buchten, unendlich vielen Tälern und Hügelkämmen. Dennoch geben wir nicht der Versuchung nach, eine Runde um die zerklüftete Insel zu fliegen – wir müssen Sprit sparen für den Flug am nächsten Tag. Und so steuern wir schnurstracks auf die Landebahn zu, vorbei an einem Flugzeugwrack, das dort in den Bergen liegt. Am 30. Juli 1982, einem jener vielen nebligen Tage, zerschellte hier eine Transportmaschine der US Coast Guard, eine Hercules. Die Piloten waren sofort tot. Die Trümmer wurden in dem unwegsamen Gelände bis heute nicht geborgen. Eine beklemmende Erinnerung daran, wie gefährlich die Landung auf dieser Insel sein kann.

Nach der Landung suchen wir uns als Erstes einen Schlafplatz und finden ihn in einer windgeschützten Ecke hinter dem alten Flughafengebäude. Nicht weit von zwei großen Satellitenschüsseln entfernt schlagen wir das grüne Drei-Mann-Zelt auf, das wir in Anchorage, Alaska, gekauft haben. Neben dem Flughafen­gebäude erhebt sich ein Gerippe aus Stahl, der ehemalige Funkmast, über den seit drei Jahren niemand mehr funkt. Auch ­unsere Handys funktionieren nicht. Selbst das Satellitentelefon, über das wir bislang überall telefonieren konnten, meldet: Kein Empfang! Wenn nicht unten auf dem Vorfeld »Maggie« stünde, käme ich mir fast wie Robinson Crusoe vor, gestrandet im Nirgendwo, fernab von allem Menschenleben. Stattdessen beschleicht mich ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits fühle ich mich ungeheuer frei, weil ich die Zivilisation hinter mir gelassen habe – weiter als jemals zuvor in meinem Leben. Andererseits empfinde ich eine leise Beklemmung, weil wir ganz auf uns allein gestellt sind und uns niemand helfen kann.

P1070886Die Relikte des Zweiten Weltkriegs, die auf Attu überall zu besichtigen sind, steigern dieses Gefühl der Beklemmung noch. Aus Deutschland kenne ich das nicht: Fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende sind Ruinen und Schutt, Minen und Bomben längst beseitigt. Nur ab und zu flackert beim Fund ­einer Fliegerbombe die Erinnerung an die mörderische Epoche kurz auf, ehe sie ebenso schnell wieder verblasst.

Auf Attu dagegen habe ich das Gefühl, als sei der Zweite Weltkrieg noch gar nicht lange vorüber. Auf einer Anhöhe oberhalb des Flugplatzes thront eine Flugabwehr-Kanone, etwas weiter liegt ein verrosteter Flugzeugpropeller im Gras. Als wir hinunterlaufen zum Meer, über einen anfangs geteerten Weg, der ­später in einen Schotterpfad mündet, stehen links und rechts Schilder, die vor Sprengsätzen warnen: »Caution! Unexploded Ordnance Present on Island« – Vorsicht! Nicht explodiertes Kriegsgerät auf der Insel. Wir wagen es deshalb nicht, den Weg zu verlassen und in die Hügel zu stapfen – so verlockend es wäre, von dort den Blick über die Insel schweifen zu lassen.

Attu war im Zweiten Weltkrieg eine umkämpfte Insel. Am 7. Juni 1942 sind in der Bucht, in der Wolf und ich heute unser Zelt aufschlagen, die Japaner gelandet. Es ging ihnen um die Seeherrschaft im nördlichen Pazifik. Fast ein Jahr hielten die Japa­ner sich auf Attu. Am 29. Mai 1943 gelang es den Ameri­kanern jedoch, die Insel nach einer blutigen Schlacht zurückzuerobern. 580 amerikanische Soldaten und 2351 japanische Soldaten starben. Nur 28 Japaner überlebten, die meisten anderen sprengten sich, als die Niederlage absehbar war, mit ihren Handgranaten in die Luft.

Als wir unten am Wasser sitzen, jeder eine Flasche »Alaskan Beer« in der Hand, die wir aus Adak mitgebracht haben, versuche ich mir vorzustellen, wie das vor sieben Jahrzehnten wohl gewesen ist, als um diese Insel so erbittert gefochten wurde. Hinter uns erhebt sich der dunkle Kastenbau einer rostigen Halle, daneben stehen Telefonmasten, die keine Leitungen mehr tragen. Vor uns das Meer. Die Reste eines hölzernen Piers. Schiffe haben hier angelegt, um die 47 Menschen zu versorgen, die auf Attu bis zur Invasion der Japaner gelebt haben. Seither verrotten die Pfähle, die Querbalken des Piers sind verschwunden. Genau hier sind auch die Amerikaner gelandet, um Attu zurückzuerobern. Ausgehend von der »Massacre Bay«, wie sie bis heute in manchen Karten heißt, sind sie mit ihrer Übermacht von 15000 Soldaten ins Innere der Insel vorgedrungen und haben die Japaner binnen weniger Tage bezwungen.

Als die Sonne untergeht, stiefeln wir zurück zu unserem Schlafplatz und machen uns auf einem Holztisch, der neben dem Flughafengebäude steht, ein Abendessen. Der Blick ist spektakulär. Wir schauen auf die schroffen Berge von Attu. Die Strahlen der Sonne tauchen die Wolken erst in ein sattes Gelb, dann in ein Orange. Später, nach Sonnenuntergang, leuchten die Berge und das Meer in einem tiefen, satten Blau.

Unser Abendessen ist nicht sehr opulent, aber wir zelebrieren es, als säßen wir in einem guten Restaurant. Wir decken den Holztisch mit dem ein, was wir am Tag zuvor in Adak zusammengeklaubt haben: Teller aus Styropor, Plastikbesteck, Plastikbecher, Papierservietten. Wir richten das Brot und die Ritz-Kekse auf einem der Teller an, schneiden den Cheddar-Käse auf und drapieren die Scheiben liebevoll auf einem weiteren Teller. Als Getränke haben wir Milch und Kakao in Flaschen dabei, außerdem einen großen Wasserkanister. Doch vor allem trinken wir jeder eine ganze Flasche kalifornischen Rotwein, einen Cabernet Sauvignon. Wir saufen an gegen die Angst.

»Ich hab Schiss«, sage ich zu Wolf.

»Ich auch«, entgegnet er knapp.

Wolf hat die halbe Welt gesehen, hat über 50 Länder bereist. Asien. Arabien. Europa. Südamerika. Er hat neben einer einsamen Straße in Weißrussland gezeltet, war in Syrien unterwegs oder ist auf den Kilimandscharo gestiegen. Eigentlich ist er ein gelassener, fröhlicher Typ, aber nun packt auch ihn die Furcht.

Um uns abzulenken, planen wir akribisch den nächsten Tag. Gehen noch einmal Schritt für Schritt alles durch. Überlegen, wann wir aufstehen. Wann wir starten. Wie schnell und wie hoch wir fliegen sollen. Wir berechnen noch einmal, ob unser Sprit für den langen Flug über den Pazifik reichen wird. Wie oft haben wir das in den letzten Wochen gemacht? Achtmal? Zehnmal? »Ja, der Sprit wird reichen, bestimmt«, sagt Wolf in seinem texanisch gefärbten Deutsch.

Er ist ein drahtiger Kerl, groß, schlank. Seine Augen blitzen unentwegt, und in diesem Moment kann ich in ihnen nicht bloß die Angst, sondern auch die Vorfreude auf das sehen, was uns am nächsten Tag bevorsteht. Der Wein löst unsere Zungen, er vertreibt unsere Anspannung. Und so reden wir schon bald nicht mehr übers Fliegen, sondern über die Dinge, die wirklich unser Herz bewegen. Ich erzähle von Heike und Marie, die ich beide so sehr liebe, von unserem wunderbaren Leben zu dritt in Pullach. Und Wolf erzählt von Caroline, seiner Freundin, die in San Francisco lebt, weit weg von Berlin, in Deutschland, wo er seit Jahren zu Hause ist.

P1060177In ein paar Monaten, erzählt Wolf begeistert, werde er zu Caroline ziehen. Kalifornien statt Deutschland. Pazifik statt Spree. Und dann werde er mit ihr zusammen mit einem VW-Bus hinunter bis nach Südamerika fahren. So ist Wolf: Er denkt schon an das nächste Abenteuer, ehe er dieses hinter sich gebracht hat. Ein ewiger Weltenbummler.

Als wir uns genug Mut angetrunken haben und es dunkel wird, gehen wir zum Zelt und schlüpfen in unsere Schlafsäcke. Es ist kalt, nur knapp über null Grad. Über meine Jeans und meinen Pulli streife ich das wattierte Innenelement des Über­lebens­anzugs, außerdem ziehe ich meine Winterjacke an und setze eine Mütze auf.

Ich schlafe tief und fest, als Wolf mich mitten in der Nacht ­wecken kommt.

»Johannes, schau dir die Sterne an, das ist unglaublich«, sagt er.

»Ach, lass mich schlafen«, knurre ich und drehe mich um.

Sterne? Gibt es überall. Habe ich schon gesehen.

Aber von wegen. Zwei, drei Stunden später muss ich pinkeln. Schlaftrunken taumele ich aus dem Zelt, in der einen Hand eine Taschenlampe. Die Nacht ist tiefschwarz; als ich jedoch nach oben schaue, kann ich es kaum fassen: Über mir erstreckt sich ein Himmel, wie er phantastischer nicht sein könnte. Im Umkreis von mehreren Hundert Kilometern gibt es hier keine einzige Lichtquelle – die Sterne glitzern und funkeln in einer Pracht, die ich aus Europa nicht kenne, nicht einmal aus Regionen, die fernab der Großstädte liegen.

Und dann erhebt sich mit lautem Flügelschlagen und Geschnatter ein Schwarm Wildgänse in den Himmel, aufgeschreckt von mir, dem seltsamen Besuch auf der Insel. Es ist wie in ­einem Film. Wie in einem Geisterfilm. Und ich bin mittendrin. Lange bleibe ich vor dem Zelt stehen. Blicke hoch zum Himmel, zu den Sternen, zur leuchtenden Milchstraße.

Am nächsten Morgen sind wir vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Wir reden nicht viel, sind in uns gekehrt vor dem langen Flug. Wir wissen genau, was wir zu tun haben. Wolf ist der Penible von uns beiden, deshalb läuft er vor dem Frühstück die Landebahn ab. Liegen dort vielleicht Steine herum? Gibt es Schlaglöcher? Schon bei der Landung haben wir nichts dergleichen gefunden, aber sicher ist sicher. Nach dem Frühstück laufe auch ich noch einmal die Piste ab.

Danach ziehen wir »Maggie« vorsichtig aufs Vorfeld. Wir wollen auf keinen Fall, dass der Propeller auf den Asphalt schlägt und beschädigt wird, so wie ein paar Wochen zuvor bei einer missglückten Landung in Deutschland. Wir sind wegen des Schadens, den »Maggie« dort genommen hat, noch immer leicht paranoid, immerhin haben wir den Abflug für unsere Erdumrundung deswegen verschieben müssen und die ersten beiden Tage mit Warten verbracht. Wenn dem Flugzeug hier das Gleiche passiert, können wir nicht fliegen und müssen hoffen, dass jemand nach uns sucht. Denn Hilfe rufen können wir nicht. Kein Empfang.

Wir packen unser Gepäck in die Maschine. Das Zelt. Die Rucksäcke und Taschen. Selbst auf dieser menschenleeren Insel habe ich meine Kamera, meinen Laptop und mein iPad nachts nicht im Flugzeug gelassen, sondern mit ins Zelt genommen. Aus Gewohnheit – damit nichts gestohlen wird. Hinter den beiden Pilotensitzen erhebt sich unser schwarzer Zusatztank, die »Big Bertha«, prall gefüllt bis obenhin.

P1060193Die Sonne ist mittlerweile aufgegangen. Am Himmel ziehen Schäfchenwolken vorbei. Wir haben tatsächlich bestes Flugwetter. Wolf wartet etwas entfernt, am Rande des Vorfelds. Ich stehe auf der Rollbahn und bete.

Lieber Gott, geleite mich sicher über den Pazifik.

Lieber Gott, sorge dafür, dass ich wieder heimkomme nach München, zu Heike und Marie.

Wenn über dem Pazifik der Motor aussetzt, wenn wir im Meer notwassern müssen, sind die Aussichten, dass wir überleben, nicht gut. Schon bei der Landung kann es die Mooney zerreißen. Wenn wir es auf unsere Rettungsinsel schaffen, haben wir vielleicht eine Chance. GPS-Sender, Leuchtraketen, Notrationen – haben wir alles dabei. Irgendwer wird uns dann finden. Ein Flugzeug. Ein Schiff. Möglicherweise.

Und wenn wir es nicht auf die Rettungsinsel schaffen? Dann könnten wir mit unseren Überlebensanzügen in den Pazifik springen. Aber viel länger als 45 Minuten würden wir in dem ­eisigen Wasser nicht überleben.

Vier, fünf Minuten stehe ich so da und bete.

Schließlich sagt Wolf: »Los geht’s!«

»Ja«, sage ich, »los geht’s!«

In 80 Tagen um die Welt - Lesen Sie hier zweite Kapitel von "360° westwärts": Vorsicht, Kolbenfresser!